100 Vorschläge zu einem Umgang mit Zeit …

… der weniger an Optimierung, Fertigstellung und deren Freunde interessiert ist

LANGEWEILE, DU LIEBENSWERTES TIER

0. Chronologie rausnehmen, Nummern schütteln

1. zu beantwortende Frage: Welche ist die Form von Freiheit, die mir bleibt? Die Freiheit zu entscheiden, was ich konsumiere?

2. Farbband für die Schreibmaschine besorgen

3. Autodilettantismus als unendliche Bereicherung verstehen: HULDIGE DEM POTENZIAL, WELCHES IM AUTODILETTANTISMUS STECKT

4. nach Odessa fahren und dort im Flagman Hostel absteigen (bitte unbedingt und zwingend mit der 96-jährigen Nachbarin einen Schwatz halten, sie wird denken, du seist ein Freiwilliger, gekommen Schweiss und Blut zu opfern für das Wohl ukrainischer Waisenkinder, sie wird dir dankbar sein und dir mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Anis-Schnäpslein oder eine ihrer Katzen anbieten), dann vorzugsweise im Teekannentheater vorbeischauen und bei mangelnden Russischkenntnissen Vergnügung, Zerstreuung und Verständnis bei der Theaterkatze finden (sie wird dich mit ihrem unbändigen Spieltrieb verblüffen, Handschuhe und lange Ärmel schaden nicht) einmal Halva kaufen, einmal des Nachts das Meer aufsuchen, dort, wo Dunkelheit komplett ist, Kopf unter Wasser, Arme ausstrecken, bewegen und da ist der Rausch, da hockt plötzlich die komprimierte Milchstrasse auf den Armen, Silberplankton tanzt auf der Haut

5. ein fremdes Freundschaftsbuch lesen

6. einen Huldigungsbrief bzw. Abrechnungsbrief schreiben an entweder
a.)jemanden, dem man im öffentlichen Verkehr häufiger begegnet und Sympathie empfindet und demnach den Brief unbemerkt in Hosentasche o.Ä. stecken;
b.) an die Primarschullehrerin, den Primarschullehrer;
c.) an verstorbene Verwandte („was ich schon immer sagen wollte“);
d.) an verstorbene Freunde;
e.) an Film/Märchen/Romanfiguren aus der Kindheit, die einem nahestanden

7. in die Limmat springen

8. ein in der Küche verendetes Insekt beerdigen

9. BITTE ZEIT „VERSCHWENDEN“, BITTE EIN GÖNNERHAFTES, LUXURIÖSES ODER BISWEILEN GENUSSFREUNDLICHES VERHÄLTNIS ZU ZEIT HABEN, BITTE LEERE WEGEN PAUSE / UNTERBRUCH / ZWISCHENZEITLICHEM STILLSTAND GENIESSEN oder AUCH LANGEWEILE IST EIN LIEBENSWERTES TIER:
– abgekaute Fingernägel sammeln
– Ameisenhaufen finden, aufstochern und z.B. zu beobachtende Vorgänge mit Überschriften versehen wie „Wie viele Ameisenflüchtlinge zieht es nach Westen?“ oder Raum – und Zeitkontinuum mitdenken: „Schaffen es diese Ameisen, das Stückchen Wurst, welches ich unbemerkt fallen liess – bis zum offiziellen Anfang des Apéros – zum Zwecke alleinigen Verzehrs in Sicherheit zu bringen?“
– Tischplatte von unten zum selben Zweck wie von oben zu benutzen versuchen (mindestens 15 Minuten bevor die Kapitulation erlaubt ist)
– Antwort auf die Frage suchen: Welches sind die zehn Gegenstände / Tiere
/ Menschen, mit denen ich mich kremieren lassen wollte, stürbe ich heute?

10. sich unter den Achselhöhlen und zwischen den Beinen waschen (Typus pragmatisch, lebensnah)

11. einer Empörung in die Wade zu beissen versuchen und diesen Biss, Beissakt, das Verkeilen des Kiefers irgend festzuhalten versuchen

12. das Abebben beim Beenden von Projekten: Die Leere liebkosen

13. auf die Gegangenen eins trinken

14. einem unbekannten Toten ein Geschenk auf die Erdklumpen vor der Platte legen

15. der Mutter nochmal Danke sagen

16. Frage: Wird Schweigen oft als Zuspruch gedeutet?

17. das Märchen „Der Gevatter Tod“ der Gebrüder Grimm lesen

18. Antwort auf die Frage suchen: Wie eng ist die Zeit mit dem Tod verwandt? Geschwister?

19. ein inneres Warnsignal auf Suggestivfragen setzen

20. The goddess of 1967 anschauen

21. in die Stray Cat gehen auf der Langstrasse und einen Screwdriver bestellen

22. Arbeiten am Schauspielhaus Zürich – oder auch sonstwo – von Heike M. Goetze anschauen gehen

23. jemanden anrufen, dessen Telefonnummer mehr als einmal die Ziffer 13 in sich trägt

24. Frage: Welche Form, Beschaffenheit und Materialität hätte das Denkmal, welches ich erbauen lassen würde den Opfern von sexueller und / oder sexualisierter Gewalt?

25. sich ganz doll Menschen wünschen, die sich tatsächlich mit den „Konsumenten“ ihrer „Produkte“ auseinandersetzen möchten (meint den Theaterbetrieb)

26. zum Frühstück ein Maxibon essen

27. den Ruf der Stadt hören

28. The Wave Pictures anhören (ganz dringend)

29. jemandem das Bett machen

30. von jemandem das Bett gemacht kriegen

31. einmal in der Rosenthaler Strasse in Berlin – Mitte zur Wahrsagerin gehen, sie trägt den schmucken Namen Ines Tabu und vermag dennoch oder erst recht auf behutsame Art und Weise professionell zu sein

32. das Lieblingsbuch von mit 13 hervorkramen

33. Frage: Glaubst du, dass Kinder unschuldig sind?

34. über Bord mit der Rücksichtnahme! Über Bord mit der Selbsteinschätzung!

35. ganz grundsätzlich Erwartungen dahin runtersetzen, wo sie hingehören: Unter deine Fussballen.

36. eine E-Mail verschicken an diverse Leute mit einer Liste, die hundert Punkte umfasst, welche sich unter folgender Anleitung zusammenfassen liessen: WOFÜR ES SICH ZEIT ZU NEHMEN LOHNT

37. den eigenen Vater (oder jemand Vaterähnliches) aus dem Gedächtnis skizzieren und plötzlich weiss man, was fehlt und auf das Fehlende schaut man bei einer allfälligen nächsten Begegnung genauer

38. jemanden unbekannterweise fragen, woher er oder sie seine oder ihre Schuhe hat

39. für jemanden entweder Windeln kaufen oder den Hut in die Luft werfen oder strippen (Reihenfolge beliebig)

40. dort sterben, wo man geboren ist

41. sich die Freiheit nehmen, zu sprechen und dabei nicht in erster Linie an den Adressaten zu denken

42. sich selber ein Geheimnis verraten

43. Maya Derens Filme anschauen und schmunzeln (unter anderem, weil ihre Filme gesamthaft so viel kosteten wie der Lippenstift in Hollywood)

44. Selbstversuch: Kann ich mich daran erinnern, was ich am 23.6.2011 anhatte? Tat? Mit wem?

45. sich – wenn irgend möglich – eine Arbeit von Jan Lauwers und der Needcompany anschauen

46. Schreibe deine eigenen zehn Gebote

47. Postkarte aus den Ferien an Simonetta Sommaruga schicken

48. Frage: Weiss Frau Reschenk, was ich meine?

49. jemanden detailliert, geduldig und nach bestem Wissen, Gewissen, Willen aufklären (sexuell)

50. eine Liste der ungebetenen Ratschläge, die man sich aber doch zu Herzen genommen hat, anfertigen

51. Die Dauer des Wahrnehmens die Dauer bis zur Wertung überwiegen lassen

52. sich eine Gehirnwäsche verpassen, wie zum Beispiel durch ein Mantra wie folgendes: Ich akzeptiere deine Behinderung sowie du auch meine akzeptierst ODER ich würde mich selbst anmachen

53. Der diskrete Charme der Bourgeoisie anschauen

54. die Senkung der Scham herbeiführen

55. jemanden unbekannterweise auf einen Regenbogen aufmerksam machen, manchmal hält man dem ja beharrlich den Rücken entgegen

56. die Wachheit so zu wetzen, dass man sich der Endlichkeit bewusst ist

57. sich Ferien auf dem Saturn vorstellen und / oder einfach so das Gesicht in ein Lagerfeuer halten

58. einen Monat lang ausschliesslich Autorinnen lesen (als minikompensatorischer Versuch für grob geschätzte 5000 Jahre Männerdominanz und hauptsächlich männliche Hinterlassenschaften)

59. ein Schlumpf-Glacé essen

60. Adelheid Duvanels Prosaminiaturen (von wahrlich unschätzbarem Wert) lesen

61. Das weiche Hirn, das Ferienhirn (= die Behutsamkeit und Langsamkeit im Denken, die Genauigkeit im Wahrnehmen, die konzentrierte Gemächlichkeit) ebenfalls auf den Alltag anzuwenden versuchen

62. sich die Schamhaare färben

63. in der Badi die Haare färben

64. Kondolenzkarten auf Vorrat basteln

65. im Zoologischen Museum einen ganzen Sonntag verbringen

66. nackt baden

67. sich in die Strassenschlucht neben der Bunja-Strasse in Odessa legen

68. sich überlegen, welcher Simpsons-Figur man am ähnlichsten sieht

69. in einen Schrebergarten gehen und dort ein Stillleben aus dem vorhandenen Gemüse arrangieren, sich mit der Kamera davor positionieren und erst abdrücken, wenn die Biene an prominenter Stelle landet, sagt David

70. David gut zuhören

71. in den eigenen vier Wänden Matriarchat spielen

72. dem Nachbarskind ein Plüschtier schenken

73. neben Maria einschlafen

74. neben Jakob einschlafen

75. einen Tag lang nur in Diminutiven zu sprechen versuchen

76. einen Tag lang schweigen und trotzdem oder vor allem den üblichen Tätigkeiten nachgehen

77. für ungebetene Ratschläge erst recht dankbar sein

78. keine Beerdigungsreden auf vergangene imaginäre Freunde halten, sonst vergehen sie tatsächlich und man läuft Gefahr, in der Demenz wirklich komplett alleine zu sein

79. zu einem Auftritt von DIE SCHINKEN VON MORGEN kommen

80. Frage: Hast du schonmal etwas so versteckt, dass es keiner je finden wird?

81. Frage: Wem schuldest du was, das du nicht hergeben willst?

82. Frage: Wie riecht eigentlich Geld?

83. Frage: Welches sind die Stimmen, die zum Tod führen?

84. sich des eigenen Schweisses nicht schämen

85. jemanden am Handgelenk fassen und sagen: „Ich habe noch nicht ausgelebt, du hast noch nicht ausgelebt, er hat noch nicht ausgelebt,…“ (sprich: Einmal durch deklinieren)

86. Frage: In welcher Reihe sitzt du so?

87. ein Foto von den Bewohnern der eigenen Wohnung an die Aussentür kleben (gegens Einrosten in der Anonymität im Stadtraum)

88. ein Essay schreiben zum Thema: WAS ES BEDEUTET, EIN ARSCHLOCH ZU SEIN

89. manchmal zu recht ein Arschloch sein

90. Antwort suchen auf: Was ist mir gerade am liebsten, die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft? Oder Lösungsweg aus folgendem Szenario suchen: Im Falle einer Umweltkatastrophe müsste die Entscheidung gefällt werden, Kreis 4 oder Kreis 1 zu retten, nur einer von beiden könnte überleben, welcher wäre der glückliche?

91. Gesichter der Ekstase

92. aufrufen zur absoluten Freiheit im Umgang mit Sprache: KNETE DEINE SPRACHE SO, DASS DIR DER TEIG SCHMECKT

93. Selbstversuch: Wie lange kann ich mich im Nachmittagsverkehr unsichtbar fühlen?

94. Mach mal was mit folgendem Satz: „Ein Fuchs ist auch ein gutes Taxi für Geister.“

95. Mache eine Liste aller Toten, mit denen du gerne geschlafen hättest

96. die eigene Grabinschrift entwerfen

97. jemandem den eigenen Zauberspruch beibringen

98. vor die Hunde knien

99. nicht anfangen, nicht mehr zu rebellieren

100. Punkt 99. wirklich nicht verschmähen

Copyright: Katja Brunner